Zeitenwende und Zeitgeist
2024
Über die Zeit mit Andy Warhol
Die Ausstellung Velvet Rage and Beauty von Andy Warhol mit Arbeiten von 1949 bis 1987, seinem Todesjahr, veranlasst mich über meine Zeit mit dem Künstler zu sprechen. Die umfangreichen Interviews im Katalog beschäftigen sich ausstellungsbedingt mit seiner Person und seiner Befindlichkeit, nicht aber mit seinen künstlerischen Einflüssen, seinen Vorbildern und kunsthistorischen Interessen. Ich lernte Andy Warhol in den frühen 60er-Jahren in der Factory kennen, nachdem ich schon vorher Zeichnungen und Aquarelle in der Bodley Gallery gesehen und erworben hatte.
In ersten Gesprächen überraschten mich seine Kenntnisse der Kunstgeschichte. Wir sprachen über Matisse, dessen Werke er bei seinem Sohn in der Matisse Galerie in New York gesehen hatte. Mir fiel sein linearer Zeichenstil auf, der mich an späte Zeichnungen von Matisse erinnerte. Ihm wurde es durch sein außergewöhnliches Zeichentalent und seine erfolgreiche Karriere als Designer ermöglicht, in den 50er-Jahren Werke von Kollegen zu erwerben. Er kaufte Bilder von Stella, den Koffer von Marcel Duchamp und eine Zeichnung von Jasper Johns, dessen Werke er bewunderte, wie auch die Arbeiten seines Freundes Robert Rauschenberg. Beide Künstler haben ihn beeinflusst und er litt darunter von ihnen als Künstler übersehen zu werden. Sein Beruf als Designer wurde nicht gewürdigt.
Warhol überwand schnell durch seine künstlerischen Arbeiten diese Geringschätzung. Am Carnegie Institut of Technology in Pittsburg, wo er studierte, war es nicht ein Lehrer, sondern vermutlich Moholy Nagy, der ihn beeinflusst hat. Moholy Nagy gründete 1938 das Neue Bauhaus in Chicago und leitete es bis zu seinem Tode im Jahr 1945. Er unterrichtete dort als Professor für Grafik und Design. Sein Telefonbuch, dass er am Bauhaus 1928 entwickelt hatte, war eine Anleitung für die Herstellung seiner abstrakten Werke, die man telefonisch bestellen oder bei Erwerb des Buches auch selber herstellen konnte. Ein frühes Do it yourself, wie es später Warhol als eine Möglichkeit Bilder zu malen, ironisch mit seinen großatigen Do it yourself-Bildern tat.
Marcel Duchamp montierte 1913 das Vorderrad eines Fahrrads auf einen weißen Küchenhocker und präsentierte es als Kunstwerk. Braque und Picasso collagierten ihre Bilder mit gefundenen Papieren. Miro sammelte Steine, um sie zu bemalen und Ernst stellte seine gefundenen Objekte als „objet trouvé“ aus. Warhol lernte 1963 in Los Angeles Marcel Duchamp auf seiner ersten retrospektiven Ausstellung kennen. Auch das Frühwerk von Rauschenberg lernte er kennen und erfuhr, dass er bereits Fotos, Objekte und Siebdrucke in seine Bilder einfügte. Ebenso wusste er, dass Jasper Johns Objekte in Bronze gießen ließ und sie 1958 als Skulpturen in einer Pariser Galerie ausstellte, wo ich sie auch gesehen habe. So überrascht es nicht, dass Warhol auch als bildender Künstler und nicht nur als Designer wahrgenommen werden wollte. Er begann aus Zeitungen und Magazinen Anzeigen abzuzeichnen und abzumalen und auf großformatige Leinwände zu übertragen. Zunächst noch malerisch mit Drippings. Auf Rat seines Freundes Henry Geldzahler unterließ er das und übertrug die Texte der Zeitungsanzeigen exakt auf seine Bilder, sodass sie wie gedruckt erschienen. Es war letztlich nur noch eine Zeitfrage die Vorlagen zu fotografieren und die Fotos als Siebdruck auf die Leinwände zu übertragen. Seine Bilder sollten unpersönlich, weder malerisch noch künstlerisch wirken und keine Aura als Kunstwerk mehr haben. Sie wurden dann auch nicht wie Originale einmalig gemalt, sondern in Auflagen gedruckt.
Sein Atelier wurde zur Factory und veränderte den Kunstmarkt. Er übernahm kommerzielle Marktstrategien. Er wurde Verleger seiner Druckgrafiken und förderte den Direktverkauf. Diese Methode machte bei erfolgreichen Künstlern Schule. Der Zeitgeist wurde in seinen Bildern noch sichtbarer, als er nur noch medienrelevante Themen auswählte. Ihn interessierten persönlich Fotos von Hollywood-Stars und unveröffentlichte Bilder von Desastern, die er vergrößert als Siebdrucke auf Leinwände übertragen ließ. Die so nur reproduktiven Bilder wurden später wieder malerisch verändert und dadurch zu Originalen. Der Künstler erreichte mit seinen gedruckten und bemalten Bildern eine noch nie da gewesene Publizität und kommerziellen Erfolg. Warhol stilisierte sich mediengerecht, sodass er und seine Arbeiten in den Medien abgebildet wurden. Er wurde zum bewunderten Star und die Factory zum Treffpunkt der Society. Die Museen aber kauften seine Bilder noch nicht, da sie nicht malerisch waren und zu kommerziell erschienen.
In dieser Zeit begann eine grundsätzliche Diskussion zwischen den Theoretikern Clement Greenberg und Harald Rosenberg über Colorfield-Paintings und Pop-Art als Kunst und Nichtkunst. In ihrer radikalen Plakativität wurden sie aber zu Ikonen der Pop-Art. Wie auch der Massenkonsum und ihre industriellen Produkte wurden seine Bilder und Objekte fließbandmäßig produziert. Warhol hat aber nie seine Vorlagen zu Kunstwerken erhoben, wie Marcel Duchamp. Der scheinbare Widerspruch war vielleicht sein Anspruch auf Originalität im Denken oder nur kommerziell. Die Brillo und Campbell Verpackungen wurden aus Holz nachgebaut und im Format geändert. Kasper König konnte ihn überzeugen für die von ihm kuratierte Museumsausstellung in Stockholm 1968 die originalen Pappkartons auszustellen und ebenfalls aus Kostengründen alle bisherigen Werke noch einmal zu drucken und gerollt zu verschicken. Erst im Museum gelangten sie ungerahmt an die Wände. Seine Kuhtapeten wurden an den Außenwänden des Museums tapeziert und dem Wind und Wetter ausgesetzt. Der Katalog, im billigen Zeitungsdruck mit seinen Bildern und seinen Sprüchen illustriert und in hoher Auflage gedruckt. Heute ist dieser Katalog ein Zeitdokument. Diese Ausstellung begründete seinen Ruhm als Pop-Art-Künstler. Der Kurator aber verkaufte sein Flugticket für die Eröffnung, um mit dem Geld weiterhin in New York bleiben zu können. Ich würde den erst kürzlich verstorbenen Freund gerne für diese Ausstellung noch einmal würdigen. 1962 stellte Warhol zuerst in Los Angeles in der Ferus-Galerie seine gemalten 32 Tomatensuppenbilder auf einem Regal stehend aus. Noch im selben Jahr, stellte er in New York in der Stable-Galerie seine Bilder und die nachgebauten Campbell und Brillo Boxen als minimalistische Skulpturen aus. Diese Ausstellung wurde zum talk of the town und begründete seinen Erfolg.
Im gleichen Jahr sah Warhol in der Galerie Castelli ein Bild von Lichtenstein, beschloss seinen bisherigen Stil zu ändern und seine Bilder nur noch nach Fotos als Siebdrucke auf Leinwände zu übertragen. Für die Kunstgeschichte eine bedauerliche Entscheidung, da beide Künstler kompositorisch wie malerisch hoch begabt waren und die Konkurrenz zwischen ihnen ein Gewinn gewesen wäre. Ebenfalls, noch im Dezember 1962 stellte Warhol zwei Bilder zusammen mit europäischen Künstlern in der bedeutenden Sidney Janis-Galerie in New York aus, die die Kunstgeschichte sehr geprägt hat. Für seine erste Ausstellung bei Castelli stellte er keine Bilder, sondern demonstrativ seine Kuhtapeten aus und vermied so den Vergleich mit Lichtenstein. Der Begriff „Original“ für Bilder war für ihn nicht mehr verbindlich. Seine Siebdrucke waren farbig übermalt und signiert, wie auch unsigniert, in unbestimmten Auflagen vom Künstler oder Mitarbeitern hergestellt. Ich selbst habe ihn liegend auf dem Fußboden der Factory gesehen, wie er eigenhändig die Drucke farbig veränderte. Für den Kunsthandel eine Herausforderung, die nach seinem Tod unlösbar wurde. Nur noch die zeitlich und örtlich gesicherten Werke erreichen heute Preise in Millionenhöhe.
Ich möchte auf ein Bild von Warhol eingehen, dass ich 1968 von Henry Geldzahler, dem Freund gekauft habe und das sich heute im Museum Ludwig in Köln befindet. Die Titelseite, des New Yorker Mirror vom 4. Juni 1962 129 DIE IN JET mit einem vom Künstler gezeichneten Flugzeugwrack auf der Frontseite. Warhol malte die Titelseite des New Yorker Mirrors nicht ab, sondern entwarf sie grafisch neu. Die beiden Titelzeilen in einer von ihm entworfenen Typographie in gleicher Größe, die das gemalte Flugzeugwrack, doppelt so groß wie die Titelzeilen einrahmt. Eine harmonisch wirkende Aufteilung und eindringliche Komposition, auf einem Bildformat von 254 x 183 Zentimeter. Er verkaufte oder verschenkte das Bild seinem Freund, der ihm geraten hatte eine Desaster Serie zu malen. So entstanden tatsächlich 1963 Desaster Bilder, aber nicht mehr gemalt oder grafisch gestaltet, sondern nach fotografischen Vorlagen gedruckt, nur noch narrativ und weit unter seinen künstlerischen Möglichkeiten. Der Künstler gab 1965 die Malerei auf und arbeitete an Filmen und für sein Magazin „Interwiev“, einem Klatschblatt über Stars und Superstars.
Erst 1972 begann er wieder Bilder nach Fotos zu malen und gleich mit einem für die Medien interessanten Foto von Mao aus seiner Bibel. Nun wieder malerisch und konservativ. Das erfolgreiche Thema wurde in Auflagen und verschiedenen Formaten gedruckt und unterschiedlich bemalt. Der Beginn einer wirtschaftlich erfolgreichen Porträt-Serie von Künstlern, Freunden und Sammlern, die zu einem Festpreis ihr Porträt mit ihrem Foto direkt oder über ein Kaufhaus bestellen konnten. Das hat seinem Ruf als Künstler nur bedingt geschadet, denn gleichzeitig entstanden eigene künstlerische Bilder, wie die Totenköpfe und Selbstbildnisse, die seine Beschäftigung mit dem Tod sichtbar werden ließen. Die fehlende eigene Komposition fand er in den Meisterwerken der Kunstgeschichte und übertrug auch sie auf seine Bilder. Eindrucksvoll blieb für mich das Porträt von Joseph Beuys, dass er mit Diamantenstaub übersprühte, sodass der Künstler wie ein Superstar glitzerte. Beide Künstler waren im gleichen Jahr Medienstars und auf der Chart Liste Nummer eins und zwei der Zeitschrift Capital. Ich selbst habe mich nicht malen lassen, stellte aber seine Kuhapeten und Helium Kissen, sowie die „Most Wanted Man“ in meiner Galerie aus und freute mich über den zweideutigen Titel „Most Wanted Man“. Die schwebenden silbernen Helium Kissen unter der Decke meiner Galerie, erinnerten mich an die mit Papier vollgeknüllten schwarzen Kohlensäcke, die Marcel Duchamp 1938 in der berühmt gewordenen Surrealisten Ausstellung in Paris unter die Decke hängte und die Bilder der Künstler wie Tapeten an den Wänden platzierte. Die nur scheinbar zu schweren Kohlensäcke, die herunterzustürzen drohten und das schwache Licht in der Ausstellung entsprachen sicherlich dem Zeitgefühl vor dem zweiten Weltkrieg. Anlässig des hundertjährigen Kölner Messejubiläums im vorigen Jahr, sollte ich im Museum Ludwig über die von mir verkauften Bilder der Pop Art sprechen. Es war ein Wiedersehen nach vielen Jahren mit Werken von Johns, Rauschenberg, Lichtenstein, Rosenquist, Wesselmann und den Bildern von Andy Warhol, die zahlenmäßig am häufigsten vertreten sind. Aber hatten seine Arbeiten immer noch die überzeugende künstlerische Wirkung, die sie einst für mich hatten? Zunächst war ich überrascht, wie wenig mich die hochgestapelten Campbell und Brillo Boxen noch beeindruckten. Damals wollte ich dem Museum eine Harley Davidson schenken, als Verbindung von Pop-Art und Zeitgeist. Das Geschenk wurde abgelehnt und als Verhöhnung der musealen Aura gesehen. Heute würde das Motorrad den Geist der 60er-Jahre, wie auch die Campbell Boxen als Industrieprodukte und zeittypisches Design verständlicher machen.
Von zehn Bildern bleiben nur drei frühe, farbig komponierte und gemalte Arbeiten, eindrucksvoll und bedeutsam. Allen voran das Pepsi-Cola Bild mit der gemalten Streichholzschachtel und dem Text „pepsi please“ und „close cover before striking“ und das wunderbare farbige und originelle Do it yourself Bild. Diese Bilder sind malerisch und thematisch noch heute interessant. Warhol hatte die damalige Diskussion über Partizipation auf seine Weise mit den Do it yourself Bildern ironisch gelöst. Partizipation von Künstlern war nicht seine Idee, sondern sehr theoretisch von Cage und hatte großen Einfluss auf die Künstler und wenig Bedeutung für die Kunstgeschichte. Auch die gemalte und grafisch gestaltete Titelseite des New Yorker Mirrors mit dem Flugzeugabsturz interessierte mich nach wie vor. Ganz im Gegensatz zu seinen Desastern Bildern und elektrischen Stühlen, die im Stil der 20er-Jahre seriell und plakativ als Siebdruck auf farbig monochromen Hintergrund in Auflagen gedruckt wurden und seinen voyeuristischen Blick verraten. Er vergrößerte seine Bilder mit einer eben so großen monochromen silbernen Fläche, als Gegensatz und aus kommerziellem Grund. In dieser Selbstbezüglichkeit erkennen wir uns auch als Betrachter der Bilder wieder. Seine nicht mehr persönlich innovative Form für seine Desaster-Themen lassen ethische Werte als Kritik wieder zu. Wer sein Werk beurteilt, muss Kunstgeschichte von Zeitgeschichte unterscheiden und ihn auch als Mediengenie und experimentellen Filmproduzenten würdigen, dass ich aus Zeitgründen unterlassen muss. Die künstlerische Kreativität hatte sich 1963 zum Film verlagert. Seine gedruckten und vervielfältigten Werke, wie die Elvis oder Dollar-Bilder, hatten seine Handschrift und Aura verloren. Erst später bekamen seine Werke wieder eine Mehrdeutigkeit, wie die Mao-Bildnisse, sowie seine anthropologischen Themen von Verlust und Tod, die alle sozialen Schichten erreichten.
Auch ohne kunsthistorische Kenntnisse. Die grafische Narration und Erkennbarkeit waren entscheidend für den Erfolg seiner Bilder und bleiben kunsthistorisch bedeutsam als Zeitdokument. Seine Werke sind aber nicht nur Zeitdokumente, sondern als Fotos der Wirklichkeit Ikonen ihrer Zeit. Bilder von Roy Lichtenstein mit ähnlichen Themen sind für die Kunstgeschichte wichtiger geworden. Seine malerischen Bilder und komplexeren Themen führen immer wieder zu Fragen der Interpretation.
Ebenso wichtig blieb Robert Rauschenberg für mich. Ich möchte hier beispielhaft sein Bild „Odalisque“ aus den Jahren 1955-1958 beschreiben. Der Künstler benutzte für dieses Werk nicht nur Farbe, sondern Holz, Stoff, Draht, Gras, Papier, Fotos, Metall, ein Kopfkissen, Glühbirnen und einen ausgestopften Hahn und nannte es „Odalisque“, um an ein Skandalbild von Ingres aus dem Jahr 1814 zu erinnern, dass heute als Touristenmagnet im Louvre bewundert wird. Das Bild von Warhol 129 DIE IN JET konnte ich in Köln wieder mit dem Werk von Rauschenberg vergleichen, die in den 60er-Jahren für mich gleichbedeutend waren. Das Werk von Rauschenberg ist räumlich, wie eine Skulptur mit malerischen Außenflächen und einem schwach beleuchteten Innenraum und schon deshalb rätselhaft. Auch der Hahn als Kurtisane ist mit seinem Titel ein Rätsel mit Assoziation geworden. Seine kunsthistorische Bedeutung sagt aber nichts über seinen Beliebtheitsgrad im Vergleich zum Bild von Warhol aus, dass mit dem Flugzeugabsturz als Thema, keine kunsthistorischen, aber emotionale Assoziationen zulässt. Diese Erkenntnis führt mich zu der zentralen Frage meines Vortrags. Ist mein kunsthistorischer Blick überhaupt noch zeitgemäß? Lassen sie mich bitte diese Frage noch zurückstellen, um über den Zeitgeist zu sprechen. Ich lebte 1958 in Paris und sah dort, wie bereits erwähnt die von Jasper Johns in Bronze abgegossenen Objekte. Das überraschte mich, da die Ecole de Paris in den 50er-Jahren meist abstrakte Werke der Künstler zeigte. Die bedeutende geometrische und gestische Abstraktion der 20er-Jahre wurde in den 50er-Jahren in Paris zum Informell oder Taschismus, der die Geschichte vergessen ließ. Die politisch missbrauchte neue Sachlichkeit war noch immer kompromittiert. Die zweite Dokumenta 1959 war als Apotheose der Abstraktion vom Kunsthistoriker Werner Haftmann geplant. Ich wurde ihr Generalsekretär und spürte die Zeitenwende, da in meinem Büro das später berühmt gewordene Bett von Rauschenberg mit dem stark farbigen Quilt und Kopfkissen hing. Arnold Bode, Gründer der Dokumenta ließ das Bild nicht zu, musste aber vertragsgemäß gezeigt werden. Eine Zeitenwende, New York gegen Paris. Die amerikanischen und europäischen Künstler begannen das Objekt und seine Wirklichkeit wieder zu thematisieren und die Geschichte wieder sichtbar zu machen. Ives Klein erinnerte gedanklich an ein unvergessenes Foto aus Hiroshima auf dem nur noch der Abdruck eines Menschen sichtbar war mit seinen monochromen blauen Bildern und dem Nichts. Alberto Burri erinnerte mit schwarz-roten Säcken auf seinen Bildern an den zweiten Weltkrieg. Die Geschichte wurde in der Kunst wieder sichtbar. Kunstgeschichte ist immer Suche nach einer unverwechselbaren Form der Narration. Aber innovative formale Ästhetik ist nicht unendlich. Die notwendigen Wiederholungen führen zu einer veränderten Bewertung der Kunst. Der Kubismus, das schwarze Quadrat, die Monochromie führten letztlich zur Konzeptkunst, zum Ende kunsthistorisch relevanter Stile und zum Beginn der Postmoderne. Die Collage, das Ready Made, das object trouvé sichtbar, wie die verwandelbare Materie mit ihrem verborgenen Geheimnis sind akzeptierte Erweiterungen der normativen Ästhetik und im Kunstwerk für die Kunstgeschichte zeitlos. Aber Ereignis und Gesinnung werden es nicht. Nur die Form und nicht die Narration wird in der Kunstgeschichte zeitlos, wenn es den Betrachter zum Denken und zur Sprache führt. Für den Künstler ist auch der Zufall wichtig. Die Form bleibt autonom, aber die Wahrnehmung und Bedeutung wird sich verändern. Da nur das Kunstwerk in der Geschichte zeitlos bleibt, wird sich die Wahrnehmung ändern, die autonome Ästhetik von ihrer Autonomie entbinden und affirmative soziale, nationale und genderbezogene Kriterien, die Event-Kultur bestimmen. Aber genau die wird nicht zeitlos bleiben. Zum Abschluss komme ich auf die von mir ausgesuchten Bilder von Rauschenberg und Warhol und meine Frage zurück: Ist mein kunsthistorischer Blick noch zeitgemäß? Welches Bild würden sie für die Nationalgalerie auswählen?
Zeitenwende und Zeitgeist
Über die Zeit mit Andy Warhol
2024
Die Ausstellung Velvet Rage and Beauty von Andy Warhol mit Arbeiten von 1949 bis 1987, seinem Todesjahr, veranlasst mich über meine Zeit mit dem Künstler zu sprechen. Die umfangreichen Interviews im Katalog beschäftigen sich ausstellungsbedingt mit seiner Person und seiner Befindlichkeit, nicht aber mit seinen künstlerischen Einflüssen, seinen Vorbildern und kunsthistorischen Interessen. Ich lernte Andy Warhol in den frühen 60er-Jahren in der Factory kennen, nachdem ich schon vorher Zeichnungen und Aquarelle in der Bodley Gallery gesehen und erworben hatte.
In ersten Gesprächen überraschten mich seine Kenntnisse der Kunstgeschichte. Wir sprachen über Matisse, dessen Werke er bei seinem Sohn in der Matisse Galerie in New York gesehen hatte. Mir fiel sein linearer Zeichenstil auf, der mich an späte Zeichnungen von Matisse erinnerte. Ihm wurde es durch sein außergewöhnliches Zeichentalent und seine erfolgreiche Karriere als Designer ermöglicht, in den 50er-Jahren Werke von Kollegen zu erwerben. Er kaufte Bilder von Stella, den Koffer von Marcel Duchamp und eine Zeichnung von Jasper Johns, dessen Werke er bewunderte, wie auch die Arbeiten seines Freundes Robert Rauschenberg. Beide Künstler haben ihn beeinflusst und er litt darunter von ihnen als Künstler übersehen zu werden. Sein Beruf als Designer wurde nicht gewürdigt.
Warhol überwand schnell durch seine künstlerischen Arbeiten diese Geringschätzung. Am Carnegie Institut of Technology in Pittsburg, wo er studierte, war es nicht ein Lehrer, sondern vermutlich Moholy Nagy, der ihn beeinflusst hat. Moholy Nagy gründete 1938 das Neue Bauhaus in Chicago und leitete es bis zu seinem Tode im Jahr 1945. Er unterrichtete dort als Professor für Grafik und Design. Sein Telefonbuch, dass er am Bauhaus 1928 entwickelt hatte, war eine Anleitung für die Herstellung seiner abstrakten Werke, die man telefonisch bestellen oder bei Erwerb des Buches auch selber herstellen konnte. Ein frühes Do it yourself, wie es später Warhol als eine Möglichkeit Bilder zu malen, ironisch mit seinen großatigen Do it yourself-Bildern tat.
Marcel Duchamp montierte 1913 das Vorderrad eines Fahrrads auf einen weißen Küchenhocker und präsentierte es als Kunstwerk. Braque und Picasso collagierten ihre Bilder mit gefundenen Papieren. Miro sammelte Steine, um sie zu bemalen und Ernst stellte seine gefundenen Objekte als „objet trouvé“ aus. Warhol lernte 1963 in Los Angeles Marcel Duchamp auf seiner ersten retrospektiven Ausstellung kennen. Auch das Frühwerk von Rauschenberg lernte er kennen und erfuhr, dass er bereits Fotos, Objekte und Siebdrucke in seine Bilder einfügte. Ebenso wusste er, dass Jasper Johns Objekte in Bronze gießen ließ und sie 1958 als Skulpturen in einer Pariser Galerie ausstellte, wo ich sie auch gesehen habe. So überrascht es nicht, dass Warhol auch als bildender Künstler und nicht nur als Designer wahrgenommen werden wollte. Er begann aus Zeitungen und Magazinen Anzeigen abzuzeichnen und abzumalen und auf großformatige Leinwände zu übertragen. Zunächst noch malerisch mit Drippings. Auf Rat seines Freundes Henry Geldzahler unterließ er das und übertrug die Texte der Zeitungsanzeigen exakt auf seine Bilder, sodass sie wie gedruckt erschienen. Es war letztlich nur noch eine Zeitfrage die Vorlagen zu fotografieren und die Fotos als Siebdruck auf die Leinwände zu übertragen. Seine Bilder sollten unpersönlich, weder malerisch noch künstlerisch wirken und keine Aura als Kunstwerk mehr haben. Sie wurden dann auch nicht wie Originale einmalig gemalt, sondern in Auflagen gedruckt.
Sein Atelier wurde zur Factory und veränderte den Kunstmarkt. Er übernahm kommerzielle Marktstrategien. Er wurde Verleger seiner Druckgrafiken und förderte den Direktverkauf. Diese Methode machte bei erfolgreichen Künstlern Schule. Der Zeitgeist wurde in seinen Bildern noch sichtbarer, als er nur noch medienrelevante Themen auswählte. Ihn interessierten persönlich Fotos von Hollywood-Stars und unveröffentlichte Bilder von Desastern, die er vergrößert als Siebdrucke auf Leinwände übertragen ließ. Die so nur reproduktiven Bilder wurden später wieder malerisch verändert und dadurch zu Originalen. Der Künstler erreichte mit seinen gedruckten und bemalten Bildern eine noch nie da gewesene Publizität und kommerziellen Erfolg. Warhol stilisierte sich mediengerecht, sodass er und seine Arbeiten in den Medien abgebildet wurden. Er wurde zum bewunderten Star und die Factory zum Treffpunkt der Society. Die Museen aber kauften seine Bilder noch nicht, da sie nicht malerisch waren und zu kommerziell erschienen.
In dieser Zeit begann eine grundsätzliche Diskussion zwischen den Theoretikern Clement Greenberg und Harald Rosenberg über Colorfield-Paintings und Pop-Art als Kunst und Nichtkunst. In ihrer radikalen Plakativität wurden sie aber zu Ikonen der Pop-Art. Wie auch der Massenkonsum und ihre industriellen Produkte wurden seine Bilder und Objekte fließbandmäßig produziert. Warhol hat aber nie seine Vorlagen zu Kunstwerken erhoben, wie Marcel Duchamp. Der scheinbare Widerspruch war vielleicht sein Anspruch auf Originalität im Denken oder nur kommerziell. Die Brillo und Campbell Verpackungen wurden aus Holz nachgebaut und im Format geändert. Kasper König konnte ihn überzeugen für die von ihm kuratierte Museumsausstellung in Stockholm 1968 die originalen Pappkartons auszustellen und ebenfalls aus Kostengründen alle bisherigen Werke noch einmal zu drucken und gerollt zu verschicken. Erst im Museum gelangten sie ungerahmt an die Wände. Seine Kuhtapeten wurden an den Außenwänden des Museums tapeziert und dem Wind und Wetter ausgesetzt. Der Katalog, im billigen Zeitungsdruck mit seinen Bildern und seinen Sprüchen illustriert und in hoher Auflage gedruckt. Heute ist dieser Katalog ein Zeitdokument. Diese Ausstellung begründete seinen Ruhm als Pop-Art-Künstler. Der Kurator aber verkaufte sein Flugticket für die Eröffnung, um mit dem Geld weiterhin in New York bleiben zu können. Ich würde den erst kürzlich verstorbenen Freund gerne für diese Ausstellung noch einmal würdigen. 1962 stellte Warhol zuerst in Los Angeles in der Ferus-Galerie seine gemalten 32 Tomatensuppenbilder auf einem Regal stehend aus. Noch im selben Jahr, stellte er in New York in der Stable-Galerie seine Bilder und die nachgebauten Campbell und Brillo Boxen als minimalistische Skulpturen aus. Diese Ausstellung wurde zum talk of the town und begründete seinen Erfolg.
Im gleichen Jahr sah Warhol in der Galerie Castelli ein Bild von Lichtenstein, beschloss seinen bisherigen Stil zu ändern und seine Bilder nur noch nach Fotos als Siebdrucke auf Leinwände zu übertragen. Für die Kunstgeschichte eine bedauerliche Entscheidung, da beide Künstler kompositorisch wie malerisch hoch begabt waren und die Konkurrenz zwischen ihnen ein Gewinn gewesen wäre. Ebenfalls, noch im Dezember 1962 stellte Warhol zwei Bilder zusammen mit europäischen Künstlern in der bedeutenden Sidney Janis-Galerie in New York aus, die die Kunstgeschichte sehr geprägt hat. Für seine erste Ausstellung bei Castelli stellte er keine Bilder, sondern demonstrativ seine Kuhtapeten aus und vermied so den Vergleich mit Lichtenstein. Der Begriff „Original“ für Bilder war für ihn nicht mehr verbindlich. Seine Siebdrucke waren farbig übermalt und signiert, wie auch unsigniert, in unbestimmten Auflagen vom Künstler oder Mitarbeitern hergestellt. Ich selbst habe ihn liegend auf dem Fußboden der Factory gesehen, wie er eigenhändig die Drucke farbig veränderte. Für den Kunsthandel eine Herausforderung, die nach seinem Tod unlösbar wurde. Nur noch die zeitlich und örtlich gesicherten Werke erreichen heute Preise in Millionenhöhe.
Ich möchte auf ein Bild von Warhol eingehen, dass ich 1968 von Henry Geldzahler, dem Freund gekauft habe und das sich heute im Museum Ludwig in Köln befindet. Die Titelseite, des New Yorker Mirror vom 4. Juni 1962 129 DIE IN JET mit einem vom Künstler gezeichneten Flugzeugwrack auf der Frontseite. Warhol malte die Titelseite des New Yorker Mirrors nicht ab, sondern entwarf sie grafisch neu. Die beiden Titelzeilen in einer von ihm entworfenen Typographie in gleicher Größe, die das gemalte Flugzeugwrack, doppelt so groß wie die Titelzeilen einrahmt. Eine harmonisch wirkende Aufteilung und eindringliche Komposition, auf einem Bildformat von 254 x 183 Zentimeter. Er verkaufte oder verschenkte das Bild seinem Freund, der ihm geraten hatte eine Desaster Serie zu malen. So entstanden tatsächlich 1963 Desaster Bilder, aber nicht mehr gemalt oder grafisch gestaltet, sondern nach fotografischen Vorlagen gedruckt, nur noch narrativ und weit unter seinen künstlerischen Möglichkeiten. Der Künstler gab 1965 die Malerei auf und arbeitete an Filmen und für sein Magazin „Interwiev“, einem Klatschblatt über Stars und Superstars.
Erst 1972 begann er wieder Bilder nach Fotos zu malen und gleich mit einem für die Medien interessanten Foto von Mao aus seiner Bibel. Nun wieder malerisch und konservativ. Das erfolgreiche Thema wurde in Auflagen und verschiedenen Formaten gedruckt und unterschiedlich bemalt. Der Beginn einer wirtschaftlich erfolgreichen Porträt-Serie von Künstlern, Freunden und Sammlern, die zu einem Festpreis ihr Porträt mit ihrem Foto direkt oder über ein Kaufhaus bestellen konnten. Das hat seinem Ruf als Künstler nur bedingt geschadet, denn gleichzeitig entstanden eigene künstlerische Bilder, wie die Totenköpfe und Selbstbildnisse, die seine Beschäftigung mit dem Tod sichtbar werden ließen. Die fehlende eigene Komposition fand er in den Meisterwerken der Kunstgeschichte und übertrug auch sie auf seine Bilder. Eindrucksvoll blieb für mich das Porträt von Joseph Beuys, dass er mit Diamantenstaub übersprühte, sodass der Künstler wie ein Superstar glitzerte. Beide Künstler waren im gleichen Jahr Medienstars und auf der Chart Liste Nummer eins und zwei der Zeitschrift Capital. Ich selbst habe mich nicht malen lassen, stellte aber seine Kuhapeten und Helium Kissen, sowie die „Most Wanted Man“ in meiner Galerie aus und freute mich über den zweideutigen Titel „Most Wanted Man“. Die schwebenden silbernen Helium Kissen unter der Decke meiner Galerie, erinnerten mich an die mit Papier vollgeknüllten schwarzen Kohlensäcke, die Marcel Duchamp 1938 in der berühmt gewordenen Surrealisten Ausstellung in Paris unter die Decke hängte und die Bilder der Künstler wie Tapeten an den Wänden platzierte. Die nur scheinbar zu schweren Kohlensäcke, die herunterzustürzen drohten und das schwache Licht in der Ausstellung entsprachen sicherlich dem Zeitgefühl vor dem zweiten Weltkrieg. Anlässig des hundertjährigen Kölner Messejubiläums im vorigen Jahr, sollte ich im Museum Ludwig über die von mir verkauften Bilder der Pop Art sprechen. Es war ein Wiedersehen nach vielen Jahren mit Werken von Johns, Rauschenberg, Lichtenstein, Rosenquist, Wesselmann und den Bildern von Andy Warhol, die zahlenmäßig am häufigsten vertreten sind. Aber hatten seine Arbeiten immer noch die überzeugende künstlerische Wirkung, die sie einst für mich hatten? Zunächst war ich überrascht, wie wenig mich die hochgestapelten Campbell und Brillo Boxen noch beeindruckten. Damals wollte ich dem Museum eine Harley Davidson schenken, als Verbindung von Pop-Art und Zeitgeist. Das Geschenk wurde abgelehnt und als Verhöhnung der musealen Aura gesehen. Heute würde das Motorrad den Geist der 60er-Jahre, wie auch die Campbell Boxen als Industrieprodukte und zeittypisches Design verständlicher machen.
Von zehn Bildern bleiben nur drei frühe, farbig komponierte und gemalte Arbeiten, eindrucksvoll und bedeutsam. Allen voran das Pepsi-Cola Bild mit der gemalten Streichholzschachtel und dem Text „pepsi please“ und „close cover before striking“ und das wunderbare farbige und originelle Do it yourself Bild. Diese Bilder sind malerisch und thematisch noch heute interessant. Warhol hatte die damalige Diskussion über Partizipation auf seine Weise mit den Do it yourself Bildern ironisch gelöst. Partizipation von Künstlern war nicht seine Idee, sondern sehr theoretisch von Cage und hatte großen Einfluss auf die Künstler und wenig Bedeutung für die Kunstgeschichte. Auch die gemalte und grafisch gestaltete Titelseite des New Yorker Mirrors mit dem Flugzeugabsturz interessierte mich nach wie vor. Ganz im Gegensatz zu seinen Desastern Bildern und elektrischen Stühlen, die im Stil der 20er-Jahre seriell und plakativ als Siebdruck auf farbig monochromen Hintergrund in Auflagen gedruckt wurden und seinen voyeuristischen Blick verraten. Er vergrößerte seine Bilder mit einer eben so großen monochromen silbernen Fläche, als Gegensatz und aus kommerziellem Grund. In dieser Selbstbezüglichkeit erkennen wir uns auch als Betrachter der Bilder wieder. Seine nicht mehr persönlich innovative Form für seine Desaster-Themen lassen ethische Werte als Kritik wieder zu. Wer sein Werk beurteilt, muss Kunstgeschichte von Zeitgeschichte unterscheiden und ihn auch als Mediengenie und experimentellen Filmproduzenten würdigen, dass ich aus Zeitgründen unterlassen muss. Die künstlerische Kreativität hatte sich 1963 zum Film verlagert. Seine gedruckten und vervielfältigten Werke, wie die Elvis oder Dollar-Bilder, hatten seine Handschrift und Aura verloren. Erst später bekamen seine Werke wieder eine Mehrdeutigkeit, wie die Mao-Bildnisse, sowie seine anthropologischen Themen von Verlust und Tod, die alle sozialen Schichten erreichten.
Auch ohne kunsthistorische Kenntnisse. Die grafische Narration und Erkennbarkeit waren entscheidend für den Erfolg seiner Bilder und bleiben kunsthistorisch bedeutsam als Zeitdokument. Seine Werke sind aber nicht nur Zeitdokumente, sondern als Fotos der Wirklichkeit Ikonen ihrer Zeit. Bilder von Roy Lichtenstein mit ähnlichen Themen sind für die Kunstgeschichte wichtiger geworden. Seine malerischen Bilder und komplexeren Themen führen immer wieder zu Fragen der Interpretation.
Ebenso wichtig blieb Robert Rauschenberg für mich. Ich möchte hier beispielhaft sein Bild „Odalisque“ aus den Jahren 1955-1958 beschreiben. Der Künstler benutzte für dieses Werk nicht nur Farbe, sondern Holz, Stoff, Draht, Gras, Papier, Fotos, Metall, ein Kopfkissen, Glühbirnen und einen ausgestopften Hahn und nannte es „Odalisque“, um an ein Skandalbild von Ingres aus dem Jahr 1814 zu erinnern, dass heute als Touristenmagnet im Louvre bewundert wird. Das Bild von Warhol 129 DIE IN JET konnte ich in Köln wieder mit dem Werk von Rauschenberg vergleichen, die in den 60er-Jahren für mich gleichbedeutend waren. Das Werk von Rauschenberg ist räumlich, wie eine Skulptur mit malerischen Außenflächen und einem schwach beleuchteten Innenraum und schon deshalb rätselhaft. Auch der Hahn als Kurtisane ist mit seinem Titel ein Rätsel mit Assoziation geworden. Seine kunsthistorische Bedeutung sagt aber nichts über seinen Beliebtheitsgrad im Vergleich zum Bild von Warhol aus, dass mit dem Flugzeugabsturz als Thema, keine kunsthistorischen, aber emotionale Assoziationen zulässt. Diese Erkenntnis führt mich zu der zentralen Frage meines Vortrags. Ist mein kunsthistorischer Blick überhaupt noch zeitgemäß? Lassen sie mich bitte diese Frage noch zurückstellen, um über den Zeitgeist zu sprechen. Ich lebte 1958 in Paris und sah dort, wie bereits erwähnt die von Jasper Johns in Bronze abgegossenen Objekte. Das überraschte mich, da die Ecole de Paris in den 50er-Jahren meist abstrakte Werke der Künstler zeigte. Die bedeutende geometrische und gestische Abstraktion der 20er-Jahre wurde in den 50er-Jahren in Paris zum Informell oder Taschismus, der die Geschichte vergessen ließ. Die politisch missbrauchte neue Sachlichkeit war noch immer kompromittiert. Die zweite Dokumenta 1959 war als Apotheose der Abstraktion vom Kunsthistoriker Werner Haftmann geplant. Ich wurde ihr Generalsekretär und spürte die Zeitenwende, da in meinem Büro das später berühmt gewordene Bett von Rauschenberg mit dem stark farbigen Quilt und Kopfkissen hing. Arnold Bode, Gründer der Dokumenta ließ das Bild nicht zu, musste aber vertragsgemäß gezeigt werden. Eine Zeitenwende, New York gegen Paris. Die amerikanischen und europäischen Künstler begannen das Objekt und seine Wirklichkeit wieder zu thematisieren und die Geschichte wieder sichtbar zu machen. Ives Klein erinnerte gedanklich an ein unvergessenes Foto aus Hiroshima auf dem nur noch der Abdruck eines Menschen sichtbar war mit seinen monochromen blauen Bildern und dem Nichts. Alberto Burri erinnerte mit schwarz-roten Säcken auf seinen Bildern an den zweiten Weltkrieg. Die Geschichte wurde in der Kunst wieder sichtbar. Kunstgeschichte ist immer Suche nach einer unverwechselbaren Form der Narration. Aber innovative formale Ästhetik ist nicht unendlich. Die notwendigen Wiederholungen führen zu einer veränderten Bewertung der Kunst. Der Kubismus, das schwarze Quadrat, die Monochromie führten letztlich zur Konzeptkunst, zum Ende kunsthistorisch relevanter Stile und zum Beginn der Postmoderne. Die Collage, das Ready Made, das object trouvé sichtbar, wie die verwandelbare Materie mit ihrem verborgenen Geheimnis sind akzeptierte Erweiterungen der normativen Ästhetik und im Kunstwerk für die Kunstgeschichte zeitlos. Aber Ereignis und Gesinnung werden es nicht. Nur die Form und nicht die Narration wird in der Kunstgeschichte zeitlos, wenn es den Betrachter zum Denken und zur Sprache führt. Für den Künstler ist auch der Zufall wichtig. Die Form bleibt autonom, aber die Wahrnehmung und Bedeutung wird sich verändern. Da nur das Kunstwerk in der Geschichte zeitlos bleibt, wird sich die Wahrnehmung ändern, die autonome Ästhetik von ihrer Autonomie entbinden und affirmative soziale, nationale und genderbezogene Kriterien, die Event-Kultur bestimmen. Aber genau die wird nicht zeitlos bleiben. Zum Abschluss komme ich auf die von mir ausgesuchten Bilder von Rauschenberg und Warhol und meine Frage zurück: Ist mein kunsthistorischer Blick noch zeitgemäß? Welches Bild würden sie für die Nationalgalerie auswählen?
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